RUBATO

RUBATO ist ein Stück für Klavier, das weder auf einem normalen Klavier realisierbar ist, noch von irgendeinem Pianisten technisch (wegen der schnellen Repetitionen), rhythmisch und anschlagsdynamisch bewältigt werden kann.

Zu Beginn des Stücks ist das Ohr ist noch völlig desorientiert, da sich aus dem mit höchster Anschlags-Dynamik absolut gleichmäßig gehämmerten Töne auf keinerlei rhythmische Struktur oder Taktart schließen lässt.

Allmählich wird dem Ohr aber klar, dass es sich um schnelle Triolen handelt, später hört es, dass es wohl jeweils Sechser-Gruppen (also Sechzehntel-Triolen) sein müssen, und erst nach einer ca. halben Minute gewahrt es eine neue Betonung, die eine Taktart -nämlich einen 3/4-Takt- markiert. Die maximale Dynamik, die zu Anfang alle Noten hatten, verbleibt nur noch bei der ersten Note des Taktes; alle anderen sind dynamisch entsprechend ihrer Stellung innerhalb des Taktes skaliert. Im Grunde genommen habe ich -vergleichbar der Arbeit eines Bildhauers an einem Quader- die rhythmischen Konturen und die Taktart durch Wegnehmen herausgearbeitet und das Ohr an diesem Prozess teilhaben lassen.

Zur gleichen Zeit wird schon nach zwei Sekunden alle sechs Töne das Klavier um einen 128tel Ganzton nach unten gestimmt, und es hat die gesamte Distanz von A nach G endlich in knapp anderthalb Minuten geschafft. (In der Notation: Von A nach G entspricht von As +64 nach As -64.) Wann das Ohr die permanente Detonation zum ersten Mal bemerkt, ist hörpsychologisch ein interessantes Phänomen, das jeder an sich selbst testen kann. Irgendwie scheint sich das Ohr zunächst dagegen zu sträuben, die Intonationstrübung zu akzeptieren (weil es ein Klavierklang ist?). Ich persönlich höre in den ersten 12 Sekunden keine Veränderung, danach aber ziemlich deutlich, sogar taktweise. Auch in rhythmischer Hinsicht neigt mein Ohr am Anfang unbewusst dazu, zu seiner Orientierung in Zweier-Gruppen zu hören. Aber das mag bei jedem verschieden sein.

Ein Subito-Piano-Einbruch markiert einen neuen Abschnitt. In seinem weiteren Verlauf formieren sich nun eine Bassfigur und ein punktiertes Motiv -wie Frage-Antwort- zu einer sich selbst genügenden, mit Auftakt beginnenden Zwei-Takt-Gruppe. Unvermittelt stört ein aufdringliches, über einen Ganzton gehendes Auf-Ab-Glissando diese Zwei-Takt-Idylle und erweitert sie nach ein paar metrischen Irritationen schließlich zur Drei-Takt-Periode. Es folgt die permanente Wiederholung dieser Drei-Takt-Periode, in der ein rhythmisch-minimalistisches Modell abläuft, und zwar rein mechanisch: Gleichsam um den störenden dritten Perioden-Takt (Glissando) zu verdrängen, vergrößert sich das Frage-Antwort-Motiv der beiden ersten Perioden-Takte rhythmisch bei jedem Durchgang. (Die Notation ist entsprechend kompliziert: Der kleinste gemeinsame Nenner sind 64tel-Triolen.) Um in der Periode bleiben zu können, muss vom dritten Takt jedesmal mehr vom Ende abgeschnitten werden. (Eine aus Schlagzeug und Cembalo bestehende Rhythmus-Gruppe, die „im Takt“ bleibt, verdeutlicht die Verschiebungen akustisch.) In dem Moment, wo der Punkt erreicht ist, dass dem Auf-Ab-Glissando die gesamte Abwärtsbewegung abgeschnitten ist, bleibt die Musik auf dem durch das Aufwärtsglissando erreichten A hängen. - Das Modell hat sich ad absurdum geführt, und wir befinden uns wieder am Ausgangspunkt.

Das gesamte melodische Material dieser Komposition beschränkt sich auf das zweitaktige Frage-Antwort-Motiv, und noch bescheidener ist die Harmonik: nichts weiter als eine leere Quarte (Der untere Ton ist der Nebenton; er ist übrigens jeweils um ca. 1/3 leiser als der Hauptton.).

Als Komposition im traditionellen Sinne kann nur der Mittelteil bezeichnet werden, in denen sich das Motiv zunächst bildet und später verstört (Taktwechsel; Schlagzeug bleibt im 3/4) auf das Glissando reagiert. Anfang und Schluss funktionieren mehr oder weniger wie Uhrwerke, die in Gang gesetzt werden und von selbst ab- und auslaufen.

Noch abstrakter -in Zahlenverhältnissen- ausgedrückt: Das ganze Stück besteht sowohl vertikal als auch horizontal im Prinzip nur aus zwei Intervallen: Quart und Sekund. Beide werden im ersten Teil exponiert - die Quart als Akkord und die Sekund durch das langsame Glissando von A nach G.

Das prägende Intervall des Motivs ist in seinem ersten Teil die aufsteigende Quart D-G (darin außerdem enthalten die Sekund F-G), in seinem zweiten Teil die fallende Sekund As-G, die immer wieder an das Glissando erinnert. - Ebenso die Cembalo-Figur: aufsteigende Quart im Bass (D bis G) und fallende Sekund im Diskant (A-As-G).

Andersherum gesehen: Die besondere Klanglichkeit des Stücks ist gekennzeichnet durch das Fehlen jeglicher Terzen und deren Umkehrung, der Sexten.

Die zeitliche Ordnung ist durch die Zahl 3 determiniert: Die kleinste rhythmische Einheit ist eine Triole, der Takt geht in 3/4, und das Stück mündet schließlich in eine repetitive Drei-Takt-Periode ein. - Der „dramatische Konfliktstoff“ resultiert aus der Konfrontation mit der Ordnung der Zeit durch die Zahl 2 (bzw. 4): Das Motiv als Zwei-Takt-Periode und als Drei-Takt-Periode, das Motiv im 2/4- und 4/4-Takt über dem 3/4-Takt des Schlagzeugs und schließlich Sechzehntel gegen Sechzehntel-Triolen.

Sinn und Zweck des ganzen Stückes ist es, den Zuhörer gerade durch die oben dargestellte Beschränktheit des musikalischen Ausgangsmaterials für kleinste Veränderungen zu sensibilisieren und psychologisch in eine ständige Erwartungshaltung zu zwingen: Wann ändert sich -endlich!- was? Als um so einschneidender werden dann natürlich die drei großen „Einbrüche“ erlebt.

Die Verwirklichung dieser kompositorischen Anlage und die Aufrechterhaltung der Spannung ist nur durch minutiöses Timing der einzelnen minimalistischen Strukturen untereinander (Aufgabe des Komponisten) sowie ihr absolut präzise klangliche Realisierung (Aufgabe des Interpreten - und das kann hier nur ein Sequenzer sein) zu erreichen.

Der Titel RUBATO bezieht sich auf den letzten Teil - natürlich im übertragenen Sinn! Die Definition laut Lexikon: Rubato - ital.: „geraubt“; musikalischer Terminus für Temposchwankungen innerhalb eines festen Zeitmaßes. Was am Beginn einer Phrase verzögert wurde, wird an deren Ende durch Beschleunigung wieder aufgeholt (oder umgekehrt), so dass die Dauer der Phrase -mit oder ohne Rubato- in etwa gleich bleibt.

Herbert Gietzen

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