Der Wohltemperierte Synthesizer

J. S. Bach: Praeludium c-Moll aus dem Wohltemperierten Klavier Bd. I

Anhand des Videos lässt sich der Notentext durch Vor- und Rückspulen leicht verfolgen.

Harmonische und formale Analyse
(in normalem Schriftbild)

Umsetzung mit dem Synthesizer
(in kursivem Schriftbild)

Deutlich zu sehen ist, dass die ersten 24 Takte eine formale Einheit darstellen - mit folgenden Kennzeichen:
Die zweite Takthälfte ist jeweils eine wörtliche Wiederholung der ersten Takthälfte (mit der einzigen Ausnahme: Bass-Durchgangsnote B in Takt 18).
Diese typisch barocke Echowirkung habe ich durch zwei verschiedene Cembalo-Klänge (einen davon nannte der Sound-Programmierer „Hackbrett“), die links und rechts im Raum (Lautsprecher) postiert sind, verdeutlicht. Zudem spielt das „Hackbrett“ etwas leiser und kürzere Noten als das „Harpsichord“.

Obwohl zweistimmig, handelt es sich durchweg um eine in Bewegung aufgelöste Akkordfolge mit Wechselnoten.
Die zugrundeliegenden Akkorde lasse ich nach barocker Manier als Continuo vom „Shamisen“ (japanische Laute) spielen. Außerdem betonen sie den rhythmischen Puls, der in Halben geht.

Nun wäre es kein Stück von Bach, läge hinter dieser groben Struktur nicht noch eine feinere, nicht ganz so offensichtliche Architektur, die hauptsächlich durch die Anordnung und Verzahnung der harmonischen Flächen bestimmt ist.

Die ersten vier Takte sind nichts weiter als eine Kadenzierung der Grundtonart mit den Stufen I, IV, VII (statt V), I über einem (Quasi-)Orgelpunkt C. (Der wirkt für das Ohr als solcher auch dann, wenn er wie hier auf den schweren Taktzeiten repetiert wird, statt -wie gewöhnlich- ausgehalten zu werden.)
Orgelpunkte haben immer etwas „Bindendes“ an sich, eine Art Klammer, mit der verschiedene Harmonien (etwa Tonika und Dominante) unter einen Hut gebracht werden. Dieses Prinzip des Orgelpunktes (wenn er nicht im Bass liegt, spreche ich lieber von „Halteton“) -ob offen oder imaginär- ist eine zentrale architektonische Säule in diesem Praeludium.

Nach dieser „Exposition“ in den ersten vier Takten beginnt eine Art Fortspinnung: Die Takte 5 und 6 werden mehrfach sequenziert, bis die parallele Dur-Tonart (Es-Dur) erreicht ist (Takt 11) und in den nächsten Takten befestigt wird. Es wird sich herausstellen, dass die Takte 5-14 die einzigen im ganzen Stück sind, die nicht durch einen Orgelpunkt (bzw. Halteton) verklammert sind. Ab Takt 15 liegt der Halteton in der Oberstimme (eingestrichenes F). In Takt 18 wird der nächste Halteton, der mit Beginn der Sechs-Takt-Periode ab Takt 19 hörpsychologisch einsetzt, schon vorweggenommen. Es ist jetzt aber nicht mehr ein einzelner Ton, sondern sogar ein zweistimmiger Akkord (C und Es); aber er hält sich ein wenig versteckt (jeweils auf dem 2. und 4. 16tel jeder Vierer-Gruppe). Ab Takt 21 stößt noch G im Bass dazu, so dass sich für die letzten vier Takte dieses Teils der „Orgelpunkt“ aus dem Quart-Sext-Akkord der Grundtonart zusammensetzt.
Auch diese Steigerung auf den letzten Takten dieses Abschnitts hat Bach durch die harmonische Stauung vorgegeben (vier Takte imaginärer Quart-Sext-Akkord, der seinerseits sogar noch durch drei Takte mit den Haltetönen C und Es teilweise vorausgenommen wird).

Die Gliederung der ersten 24 Takte, die Bach durch die versteckten Orgelpunkte bzw. Haltetöne und die Periodik vornimmt, wird in meinem Arrangement durch die Platzierung neuer Klangfarben an den Nahtstellen nachvollzogen. Außerdem korrespondiert jedes dieser Klangfarbenfelder rhythmisch unterschiedlich mit den durchlaufenden 16teln: Die Klangfarbenwechsel ab Takt 5 (Beginn der Sequenzierung) mit Puls in Ganzen bzw. Halben, ab Takt 15 (Halteton F) mit Puls in Vierteln und ab Takt 19 (mehrstimmiger „Halteton“) zusätzlich noch Viertel- und Achtel-Synkopen, insgesamt ein "rhythmisches Crescendo" mit Hilfe der Klangfarben in drei Stufen. Die letzte wird durch sub. p mit nachfolgendem Crescendo des Bachschen Originals und einer in Ganzen aufsteigenden Melodie-Linie sogar noch verstärkt.

Bleibt noch zu erwähnen, wie kunstvoll Bach die Nahtstellen selbst verklammert hat: Takt 4 und 5 mit dem Halteton C, Takt 14 und 15 mit dem Halteton Es. 

Den vorgezogenen „Orgelpunkt“ in Takt 18 habe ich bereits aufgezeigt; zusätzlich verweist Bach mit dem Ton F in Takt 19 auf den Halteton F der Takte 15 - 18.
Ich habe die Takte 4 und 5 mit dem undeutlichen Moog-Sound verklammert, und die Brücke, die Bach in Takt 19 mit dem wiederaufgenommenen Ton F schlägt, habe ich durch die ebenfalls mit F beginnende aufsteigende Linie gekennzeichnet.

In Takt 25 beginnt ein völlig neuer, mehr improvisatorischer Teil, den das Ohr auch im Original als Befreiung erlebt. Nicht nur, dass sich der imaginäre Quart-Sext-Akkord auflöst, vor allem wird endlich die äußerlich immer gleiche Struktur durchbrochen, und die Musik mündet in drei ausgeschmückte Arpeggio-Akkorde ein (T. 25 - 27), die natürlich auch durch Wechselnoten angereichert und durch einen Orgelpunkt G verklammert sind.

In meinem Arrangement wurde bislang der originale Bach auch vom originalen Instrument, dem Cembalo gespielt, und zwar rhythmisch äußerst genau. Der neue Teil ab Takt 25 wird durch zweierlei markiert:

1. Der originale Bach wird ab hier vorwiegend durch synthetische bzw. verfremdende Klangfarben wiedergegeben.

2. Das Tempo wird zunehmend freier gehandhabt.

Die beiden großen Teile des Praeludiums, der starre und der improvisatorische, stehen in meiner Bearbeitung durch die Realisierung mit MIDI in gewisser Weise in dialektischem Verhältnis zueinander: Das Rigide und die barocke Echo-Praxis habe ich im ersten Teil durch eine so exakte Spielweise, wie sie keinem Menschen möglich ist, „überrealisiert“; nicht nur dass die Sechzehntel im gleichen Tempo absolut gleichmäßig (quantisiert) gespielt werden, sämtliche Noten der ersten Takthälfte haben genau die Länge einer punktierten 32tel, die der zweiten Takthälfte die Länge einer 32tel (sind also um ein Drittel kürzer). Auch die Anschlagsdynamik ist genau skaliert. Die erste Note jeden Taktes ist die lauteste, gefolgt von der auf der zweiten Zählzeit. Die dazwischen liegenden Sechzehntel sind am leisesten. Die Noten der zweiten Takthälfte sind dynamisch analog skaliert, nur um eine Stufe leiser.

Dieser „un-menschlichen“ (synthetischen) Spielweise des originalen Notentextes auf historischen „Instrumenten“ (Sounds: „Harpsichord“ und „Hackbrett“) in historisierender Aufführungspraxis (Echo, Continuo) steht im zweiten Teil eine sehr „menschliche“, agogisch eher allzu freie Spielweise gegenüber, die aber auf höchst unhistorischen „Instrumenten“ (typische Synthesizer-Sounds) realisiert wird. Diese Dialektik war -neben der formalen Gliederung des Stückes mit Hilfe von Klangfarben- der zentrale Ausgangspunkt bei meiner Bearbeitung des Bachschen Praeludiums.

Ab Takt 28 hat Bach schon das Ende im Visier: G und C (V - I) sind die einzigen Bassnoten. Hätte Bach das Praeludium für Orgel geschrieben, hätte er möglicherweise das G im Orgel-Pedal von Takt 28 bis einschließlich Takt 33 ausgehalten.
Ich habe versucht, diese finale V-I - Wirkung durch die drei Glockenschläge mit anschließendem Sturmgebraus zu vergrößern. Dabei nahm ich bewusst in Kauf, dass der zweistimmige Kanon (ab Takt 28) als rhythmisches Gerassel fast nur noch Farbcharakter hat.

Bevor uns jedoch reine C-Dur-Verklärung umfangen darf, muss die I. Stufe noch „geläutert“ werden, und zwar durch nichts anderes als durch die von den ersten Takten bekannte Kaden-zierung der Grundtonart (Orgelakkorde Takt 34/35): I (als Septakkord hat die I. Stufe gewissermaßen Trugschluss-Charakter), IV, VII. Die erreichte VII. Stufe in Takt 36 wird als ein in Bewegung aufgelöster Verminderter Akkord gleich wieder weiter kadenziert, bis in Takt 37 Mitte der endlich einsetzende Tonika-Basston die endgültige Schlusswirkung signalisiert.
Versteht sich, dass dieses Bass-C schon ab Takt 34, auch ohne dass man es explizit hörte, als Orgelpunkt präsent war.

Auf der absoluten Klimax des Stückes in Takt 34, wo die 16tel-Bewegung erstmals zum Stillstand kommt (bei Bach kurz, bei mir deutlich länger) habe ich als schroffstmöglichen Gegensatz Bachs ureigenes Instrument -die Orgel- als Klangfarbe gegen die prägende Klangfarbe unseres heutigen Musikbetriebes, die E-Gitarre („Screamer“) gesetzt. Ob sich die beiden versöhnen? Das (alte) Spinett und der (neue) weiche Synthie-Klang in Takt 37 harmonieren ja schon ganz gut zusammen, aber der letzte Akkord ist verdächtig kitschig und endet auch eher mit einem Fragezeichen (Glissando nach oben)...


Herbert Gietzen

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