Im Mai 2010 versetzte Lena (Meyer-Landrut) mit dem Gewinn des European Song Contest ganz Deutschland in eine kollektive Euphorie und läutete den Beginn des sogenannten Sommermärchens ein.
Der Song Contest ist eigentlich ein Kompositionswettbewerb, bei dem der beste Komponist gekürt werden soll. In diesem Fall steht allerdings der Riesenerfolg von SATELLITE in merkwürdigem Gegensatz zu der etwas ärmlichen musikalischen Faktur dieses Songs: Drei Minuten lang bewegt sich die Melodie fast ausschließlich und quasi entwicklungslos im Tonraum einer Quinte (h-fis), begleitet von vier stereotyp eingesetzten Begleitakkorden.
Und so entstand die Idee, jenes melodische Material mit Vorhalten und absteigender Chromatik zu konfrontieren, gespielt von einem klassischen Instrumentarium ohne dominierendes Schlagzeug. Dabei sollte eine ebenfalls drei-minütige Komposition mit einer schlüssigen Entwicklung entstehen.
Bevor die Sängerin mit der Original-Melodie einsetzt, machen die melodischen Bausteine von Refrain und Strophe einen Spaziergang durch die Musikgeschichte und treffen unterwegs auf die Herren Bach, Mozart und Brahms.
In der Fuge wird nur der Refrain (A) verarbeitet, und zwar so, als hätte J.S.Bach höchstpersönlich eine Fuge über dieses Thema geschrieben. Innerhalb dieser Fugen-Exposition werden übrigens zweimal 4 Takte Original Bach zitiert, einmal aus der Fuge cis-Moll (Wohltemperiertes Klavier I) und dann am Ende aus dem "Ricerare" (Musikalisches Opfer). Die kompositorische Herausforderung bestand darin, die Zitate so einzuarbeiten, dass der Zuhörer weder einen abrupten Übergang noch einen Qualitätsunterschied in der kompositorischen Substanz zwischen meiner Komposition und den Bach-Zitaten bemerkt.
Die "Mozart-Variation" nimmt deutlich Bezug auf die c-Moll-Sonate KV 457. Diese dient sozusagen als Folie, in die der Refrain (A) und die Strophe (ab Takt 9 des folgenden Musikbeispiels) von SATELLITE eingebettet sind. Auch hier soll der Eindruck erweckt werden, als hätte W.A. Mozart bei den Komponisten von SATELLITE schamlos gestohlen und deren musikalisch-thematisches Material für die Exposition eines seiner Sonaten-Hauptsätze ausgeschlachtet.
Und hier das Mozartsche Original:
In der "Brahms-Variation" gibt es keine direkten Vorlagen. Refrain (A) und Strophe werden hier in den Streichern direkt gegenüber gestellt. Das Klavier bezieht sich in der absteigenden Chromatik und durch die diversen Vorhalte auf die kontrapunktische Arbeit in der "Bach-Fuge". Neben der Harmonik und dem vollgriffigen Klaviersatz ist die Polyrhythmik (Duolen gegen Triolen) das Hauptmerkmal, das auf den typischen Brahms-Stil verweist.
Zur formalen Anlage:
Ich fand es reizvoll, einmal die in der Literatur übliche Reihenfolge Thema - Variationen- Fuge umzukehren und mit der Fuge zu beginnen und dann dem Thema zu enden. Dabei sollte dennoch der Eindruck einer permanenten Steigerung entstehen.
Der größte Bruch im ganzen Stück ist der Übergang von der "Bach-Fuge" zur "Mozart-Variation", einmal durch den Wechsel des Instrumentariums (Streicher - Klavier) sowie durch den Wechsel von reiner Polyphonie auf Homophonie.
Danach sind die stilistischen Übergänge viel weicher: "Brahms" ist eine logische Weiterentwicklung von "Mozart", und die auch für Brahms typischen Synkopen (3+2+3 Achtel) gehen nahezu nahtlos in die identischen Synkopen des stilistisch freilich ganz anderes gelagerten Swing über und bereiten so den Einsatz des originalen Popgesangs vor.
Dieser wiederum tut sich nicht schwer, am Ende zur Bachschen Chromatik zurückzukehren, denn diese (meist absteigende) Chromatik war seit dem anfänglichen Kontrapunkt in der "Bach-Fuge" das wesentliche Merkmal der harmonischen Unterfütterung. Und gleichzeitig wird dadurch formal der Bogen zum Anfang geschlagen.
Herbert Gietzen
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